Die erste ökumenische Gemeinschaft der Kirche(n)
Wenn Menschen von positiven Erfahrungen mit der Kirche berichten, fällt immer wieder der Name „Taizé“. Die Anfänge der dortigen ökumenischen Gemeinschaft liegen 75 Jahre zurück. Für uns ein Anlass, „Taizé“ zu unserem „Thema des Monats“ zu machen.
August 2005, Köln: Zigtausend Jugendliche und junge Erwachsene aus der ganzen Welt folgen der Einladung des wenige Monate vorher verstorbenen Papstes Johannes Paul II. zum Weltjugendtag nach Deutschland. Ein buntes Fest des Glaubens mit spirituellem Programm und Gottesdiensten, mit Singen und Tanzen, mit Gespräch und internationalen Begegnungen. Und einem Abschlussgottesdienst mit 1,2 Millionen Jugendlichen und Papst Benedikt XVI. auf dem Marienfeld. Ausgelassene Stimmung, besinnliche Momente der Stille, Tränen der Rührung bei Vielen.
Doch inmitten dieser Tage gab es auch andere Tränen. Tränen der Fassungslosigkeit, der Bestürzung und Trauer, als die Nachricht aus dem kleinen Dörfchen Taizé im französischen Burgund nach Köln und in die Welt drang, dass der 90-jährige Frère Roger Schutz, der Gründer der Gemeinschaft von Taizé, während des dortigen Abendgebetes in der Versöhnungskirche am 16. August von einer psychisch kranken Frau erstochen wurde. Tags drauf sagte Papst Benedikt am Ende seiner Generalaudienz: „Diese Nachricht betrübt mich umso mehr, als ich erst gestern einen sehr ergreifenden und freundschaftlichen Brief von Frère Roger erhalten habe. Er schreibt, dass er mir von ganzem Herzen mitteilen möchte: ‚Wir sind in Gemeinschaft mit Ihnen und mit all denen, die jetzt in Köln versammelt sind.‘“
Anfänge vor 75 Jahren
Gemeinschaft und Versöhnung unter den Christen, das waren die Prinzipien, die Frère Roger immer mehr als bedeutsam begriff, wenn man das Evangelium Jugendlichen nahebringen will, und an denen er selbst sein Leben lang festhielt. Als evangelischer Christ und Theologe suchte der 1915 geborene Schweizer Roger Schutz während des Zweiten Weltkriegs ein Gebäude, in dem gemeinschaftliches Leben möglich sein sollte. In dem verfallenen Weindorf Taizé wurde er fündig, nahe der Demarkationslinie zwischen dem nazibesetzten Norden und dem noch unbesetzten Süden Frankreichs. Er kaufte ein einfaches Haus und versteckte dort jüdische und politische Flüchtlinge, die vor den Nationalsozialisten in den Süden Frankreichs fliehen wollten. Nachdem er 1942 denunziert wurde, musste er zunächst in die Schweiz zurückkehren, bevor er im Oktober 1944, also vor genau 75 Jahren, mit seinen zwei protestantischen Gefährten Max Thurian und Pierre Souvairan wieder nach Taizé zog. Aus diesem gemeinschaftlichen Zusammenleben ging die Gründung seiner Brudergemeinschaft hervor, der Communauté de Taizé. Am Ostersonntag 1949 legten die ersten sieben Brüder ein endgültiges Lebensengagement ab, welches das gemeinsame Leben in Ehelosigkeit, materieller und geistiger Gütergemeinschaft und großer Einfachheit umfasst. Alle sieben Brüder der ersten Stunde waren evangelisch.
Erstmals ökumenisch
Die ärmlichen Verhältnisse machten es schwierig, sich in Taizé um deutsche Kriegsgefangene und französische Kriegswaisen zu kümmern – aber nicht unmöglich. Frère Rogers Schwester Geneviève Schutz Marsauche (1912-2007) sorgte sich liebevoll. Gemeinschaft und Versöhnung standen im Vordergrund. 1948 gestattete der Vatikanbotschafter in Frankreich, Erzbischof Angelo Giuseppe Roncalli, der spätere Konzilspapst Johannes XXIII., dass die protestantischen Brüder die katholische Pfarrkirche des Ortes für ihre Gebete nutzen durften. Die Gemeinschaft wuchs. An Ostern 1969 trat der junge belgische Arzt Jean-Paul der Bruderschaft bei. Bahnbrechend für die Gemeinschaft und noch mehr für die Kirchen: Er war Katholik. Nach Ablegung des Lebensengagements gehörten also zum ersten Mal einer Gemeinschaft sowohl evangelische als auch katholische Christen an. Die Bruderschaft von Taizé wurde die erste ökumenische Gemeinschaft der Kirchengeschichte und damit Zeugnis von Versöhnung zwischen den Christen unterschiedlicher Konfessionen – alles unter Gutheißung der katholischen Kirche. Die Freundschaft zwischen Frère Roger und Johannes Paul II. kam durch mehrmalige Besuche des Papstes in Taizé, aber auch durch regelmäßige Begegnungen im Vatikan zum Ausdruck.
Einfachheit, Freude, Barmherzigkeit
Heute hat die Gemeinschaft rund 100 Brüder aus 25 Ländern, Katholiken und Christen verschiedener evangelischer Kirchen. Rund drei Viertel von ihnen leben in Taizé selbst, ein Viertel in kleinen Fraternitäten irgendwo in der Welt. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie ausschließlich durch den Erlös ihrer Arbeit. „Durch ihr Dasein selbst ist die Communauté ein konkretes Zeichen der Versöhnung unter gespaltenen Christen und getrennten Völkern“, schreibt die Gemeinschaft über sich. Die Brüder leben nach den Quellen von Taizé, den Regeln, die Frère Roger verfasst und aufgrund der Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) und eigener Erfahrungen mehrmals verändert und angepasst hat. 2001 schließlich zum letzten Mal. Einfachheit, Freude und Barmherzigkeit sind die Grundlage der Quellen.
Ein Ort für die Jugend
Das alles spricht vor allem die junge Generation an. Was schon am Anfang in den 1940er Jahren begann, setzt sich bis heute unaufhörlich fort. Scharen von Jugendlichen kommen auf den Hügel in Frankreich, um das Leben in Gebet mit den Brüdern zu teilen. Sie stammen aus allen Kontinenten und nehmen an den dortigen wöchentlichen Jugendtreffen teil, die das ganze Jahr über stattfinden – in Spitzenzeiten sind es bis zu 6.000 Menschen gleichzeitig. Jede Woche. Ganz einfach in Baracken oder Zelten sind sie untergebracht, die gemeinsamen Mahlzeiten sehen eher karg aus, oft nur ein Reisgericht, ein Stück Brot und ein Obst zum Mittagessen. Doch es fasziniert, dort eine Woche zu verbringen mit einem festgelegten Tagesablauf. Gebetszeiten, Bibeleinführungen, Kleingruppengespräche, Workshops und Regionaltreffen. Wer kommt, soll von Sonntag bis Sonntag bleiben, um in den Rhythmus hineinzufinden. Die Gebete und Gottesdienste werden in der 1962 geweihten Versöhnungskirche gefeiert, weil die romanische Dorfkirche Hl. Maria Magdalena zu klein geworden war. Die Kirche ist schlicht, ansprechend und warm gestaltet, Brüder und Gläubige nehmen auf dem Boden Platz. Einen großen Teil des im Laufe der Jahrzehnte immer einfacher gewordenen Gebetes machen die Stille und die charakteristischen Gesänge aus. Meist ein kurzer Vers, entnommen aus den Psalmen, den Evangelien oder den Schriften berühmter Theologen, der mit einer eingängigen, mehrstimmig singbaren Melodie meditativ immer wieder in verschiedenen Sprachen wiederholt wird. „Laudate omnes gentes“, „Meine Hoffnung und meine Freude“, „Ubi caritas“, „Confitemini domini“ oder „Nada te turbe“ sind wohl die bekanntesten. Viele Taizégesänge haben Einzug ins deutsche Gotteslob und ins Evangelische Gesangbuch gehalten. Die neueren Gesänge stammen aus der Feder des aktuellen Priors Frère Alois Löser, einem deutschen Katholiken, den Frère Roger noch zu Lebzeiten zu seinem Nachfolger bestimmt hat, wie es die Quellen von Taizé vorschreiben. Er trat sein Amt unmittelbar nach dessen Ermordung an. Inzwischen gibt es die „Nacht der Lichter“, die jeden Samstagabend in Taizé gefeiert wird, auch in anderen Kirchen weltweit. Ein Exportschlager. Taizé zieht Kreise: Die Communauté de Taizé feiert das Europäische Jugendtreffen in einer europäischen Großstadt rund um den Jahreswechsel mit mehreren zehntausend Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die vergangenen in Riga, Basel und Madrid, und das Internationale Jugendtreffen irgendwo in der Welt.
Ökumenischer Balanceakt
Gelegentlich wird als Kritik angebracht, was gerade in Taizé als Hoffnungszeichen der Ökumene gewertet wird: Am Ende des täglichen Morgengebetes teilen die Brüder der Gemeinschaft in der Versöhnungskirche die Heilige Kommunion aus. Am Eingang ist der Hinweis zu lesen: Die Kommunion „wird den Getauften gereicht, die darauf vertrauen, dass Christus selbst es ist, der sich uns gibt und den wir empfangen, und die sich nach sichtbarer Einheit all derer sehnen, die Christus lieben. Wer die Kommunion empfangen möchte, dies aber gewöhnlich nicht tut, kann mit einem der Brüder darüber sprechen.“ Sonntagsvormittags steht ein katholischer Priester einer Eucharistiefeier vor, nicht selten Bischöfe, die zu Gast sind. Sie alle wissen wohl, dass viele der Gläubigen, die an der Eucharistiefeier teilnehmen und zur Kommunion gehen, nicht katholisch sind. Und so ist es auch besonders aufgefallen, dass der evangelische Frère Roger beim Requiem für Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz in Rom 2005 die Kommunion aus der Hand von Kardinal Joseph Ratzinger erhielt. Für viele eine unzulässige Vermischung konfessioneller Grenzen, für andere ein deutliches Zeichen der Ökumene, der Gemeinschaft und Versöhnung unter den getrennten Christen. Frère Roger umschrieb sein Verständnis 1980 anlässlich eines Europäischen Jugendtreffens in Rom öffentlich und in Gegenwart Johannes Pauls II. so: „Ich habe meine Identität als Christ darin gefunden, in mir selbst den Glauben meiner Herkunft mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemand die Gemeinschaft abzubrechen.“ So ist es bestimmt in seinem Sinne, dass auf dem Gelände 2018 eine orthodoxe Kapelle mit vielen Ikonen fertiggestellt wurde. Auf den ersten orthodoxen Mitbruder wartet die Communauté de Taizé allerdings noch.
Vergangenheit – und Zukunft
Noch viel schmerzlicher für die Gemeinschaft ist indes die Erkenntnis, dass gegen drei ihrer Brüder Missbrauchsvorwürfe aus den 1950er bis 1980er Jahren laut wurden, die sie als Teil der Suche nach Wahrhaftigkeit vor einigen Wochen öffentlich gemacht hatte. Die Bruderschaft wolle sich weiter um Wahrhaftigkeit bemühen und wisse um ihre Verantwortung, wenn Woche für Woche Tausende von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach Taizé kommen, erläuterte der Prior.
Anfang April 2019 empfing Papst Franziskus Frère Alois und ermutigte ihn, die Jugendtreffen in Taizé und die Suche nach Einheit, wie sie die Communauté lebt, fortzusetzen: „Die Einheit entsteht, indem man gemeinsam unterwegs ist, und das tun Sie in Taizé; machen Sie damit weiter!“
Florian Hölscher, Theologiestudent aus Münster, fährt regelmäßig nach Taizé und nahm auch schon an den Internationalen Taizé-Treffen in Ägypten und in Benin teil. Unser Autor Br. Konrad hat mit ihm gesprochen.
Florian, was fasziniert dich bis heute an Taizé?
Als 17-Jähriger war ich zum ersten Mal dort und habe in Taizé eine beeindruckende Erfahrung gemacht. Ich habe gemerkt, dass es dort viele andere Jugendliche gibt, die drei Mal am Tag in die Kirche zum Gebet gehen und Stille halten. Taizé ist ein wichtiger Ort für meinen eigenen Glauben geworden.
Du hast im Sommer 2015 als Permanent, also als freiwilliger Helfer, neun Wochen in Taizé mitgeholfen. Was hat dich dazu bewogen?
Ich kannte Taizé von den Wochentreffen. Das Ganze funktioniert nur, wenn andere Jugendliche den Teilnehmern ihre Zeit schenken und mithelfen, alles zu organisieren. Ich wollte in meinem Freiwilligendienst etwas von dem zurückgeben, was ich selbst dort geschenkt bekommen habe. Es war nochmal eine andere Form von Gemeinschaftsleben unter den 200 Helfern aus aller Welt, die wir dort waren. Als kleines Team haben wir mit 30 zusammengelebt.
Welche Aufgaben hattest du dort?
Eine ganze Bandbreite. Die Jugendlichen bei den Wochentreffen sollen alle irgendwo mithelfen. Als Permanent koordiniert man das. Ich habe zum Beispiel den Abwasch koordiniert und im Garten gearbeitet.
Spricht Taizé nur Menschen an, die ohnehin mit ihrer Kirche in Berührung stehen oder sind auch Kirchenferne dort zu Gast?
Natürlich kommen viele religiöse Menschen dorthin, die ihren Glauben vertiefen wollen. Aber es gibt auch immer wieder Menschen, die auf der Suche sind und noch nicht definieren können, ob und was sie glauben. In Taizé wird keiner gefragt: Welcher Konfession oder Religion gehörst Du an? Das ist nicht wichtig. In die Gebete, die Gesänge und in die Stille kann jeder hineinfinden. Im Austausch in den Kleingruppen spricht man dann über den Glauben und die eigene Suche. Das kann helfen. Meinem Eindruck nach ist es den Brüdern wichtig, dass nach den schönen Erfahrungen hier in Taizé der „Pilgerweg des Vertrauens“ im Alltag gut weitergelebt wird.
Der Autor:
Br. Konrad, Jahrgang 1986, trat 2009 in den Orden der Franziskaner-Minoriten ein. Nach seinem Theologiestudium war er als Kaplan in Gelsenkirchen tätig und absolvierte einen Lizenziats-Studiengang im Fach Kirchenrecht. Im Herbst 2016 hat er die Stelle als Kaplan auf dem Würzburger Käppele übernommen. In der deutschen Ordensprovinz ist er u. a. für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich.