Vom Minus zum Plus
Wer für die Geschehnisse der Gegenwart sensibel ist, seien sie politischer, kirchlicher oder gesellschaftlicher Art, steht nicht selten in der Gefahr, in Hoffnungslosigkeit bis hin zur Verzweiflung zu geraten. Der Klimawandel beschleunigt sich – und noch immer warten Menschen und Regierungen nur ab und werden Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten belächelt und bedroht. Aggressionen gegen Geflüchtete und Übergriffe gegen Menschen anderen Glaubens oder anderer Weltanschauungen steigern sich – und noch immer geht kein Ruck durch die Gesellschaft und rechtsextreme Parteien gewinnen an Stimmen…. Solche Beispiele könnten beliebig fortgesetzt werden.
Eine biblische Geschichte zeigt, dass es Sinn macht, trotz solcher Hoffnungslosigkeiten die Hoffnung zu bewahren und zu handeln, statt zu resignieren.
Verfahrene Situation
Die Situation scheint ziemlich verfahren, ja aussichtslos: Tausende Menschen waren zusammengekommen. Stundenlang hatten sie ausgeharrt und Jesus zugehört. Doch jetzt wird es Abend, und Hunger und Müdigkeit machen sich breit. Doch wo gibt es etwas zu essen? Die Jüngerinnen und Jünger haben jedenfalls nichts vorbereitet. Ratlos wenden sie sich an Jesus. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ So lautet die lapidare und scheinbar absurde Antwort.
Dieser Auftrag entstammt einer der bekanntesten Wundergeschichten der Bibel, der Erzählung von der so genannten Brotvermehrung (oder wunderbaren Speisung). Es ist die einzige Wundergeschichte im Neuen Testament, die in allen vier Evangelien vorkommt. Die vermutlich älteste Fassung liefert das Markusevangelium (Markus 6,35-44). Es lohnt sich, auf diese Version einen genaueren Blick zu werfen. Denn was da auf den ersten Blick als wunderbare Erzählung eines übernatürlichen Geschehens daherkommt, ist bei näherem Hinsehen in Wirklichkeit ein Paradebeispiel dafür, wie ein menschliches Urdilemma erkannt, formuliert, nüchtern analysiert und schließlich pragmatisch gelöst wird. Sozusagen ein kleiner Ratgeber, wie hoffnungsfrohes Handeln heute aussehen kann.
Wieder einmal spät geworden bei Jesus …
„Und er lehrte sie lange. Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät. Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können!“ (Mt 6,34b-36)
Es ist wieder einmal spät geworden bei Jesus. Nachhaltige Vermittlung und Verkündigung, bei der etwas „hängen bleibt“, benötigen Zeit und Ausdauer – für die, die verkünden ebenso wie für die, die zuhören. Doch Vermittlung und Verkündigung sind das eine – menschliche Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken das andere. Wenig verwunderlich also, wenn die Jünger irgendwann unruhig werden. Unterweisung schön und gut, aber jetzt, wo es Abend wird, stehen andere Dinge an: Wo gibt es für die vielen Leute etwas zu essen? Wo können sie übernachten? „Mach Schluss und schick sie weg, damit sie sich selber darum kümmern können“, so ihr Vorschlag. Die besorgten Fragen und pragmatischen Lösungsvorschläge der Jünger sind mehr als angebracht und nachvollziehbar. Glaubensvermittlung, Diskussion und Vision sind ohne Frage wichtig. Aber ebenso braucht es praktische Kompetenzen, Realitätssinn und einen pragmatischen Blick für das, was jetzt im Augenblick konkret ansteht. Sonst nützt alle Verkündigung nicht.
Jesus wischt diese Sorgen nicht beiseite. Er sieht sie und geht darauf ein – allerdings anders, als es die Jüngerinnen und Jünger erwarten: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mk 6,37a), so lautet die überraschende Antwort. Die Menschen müssen nicht woanders hin, um versorgt zu sein. Es ist alles hier, was nötig ist. „Ihr selber habt alles, um diese Menschen satt zu machen!“ So lautet der Subtext seiner knappen Antwort.
Wir können doch nicht allen helfen!?
„Sie sagten zu ihm: Sollen wir weggehen, für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen zu essen geben?“ (Mk 6,37b) Erneut ist die Reaktion der Jünger verständlich. Sie offenbart einen Konflikt, in dem wir uns oft wiederfinden. Jenes Urdilemma, das gerade jenen zu schaffen macht, die anderen helfen und Unterstützung geben wollen, die die Not anderer sehen und etwas dagegen tun wollen.
„Sollen wir für 200 Denare Brot kaufen?“, so kontern die Jünger. Man hört den ungläubig-ärgerlichen Unterton ihrer Antwort heraus. Sie ähnelt jenem – mal resignativ, mal trotzig, mal entschuldigend vorgebrachten – Satz, der gerade heute angesichts weltweiter Hunger-, Kriegs- und Flüchtlingskata-strophen in verschiedenen Variationen immer wieder zu hören ist: Meinst du das im Ernst? Sollen wir uns verschulden, um allen zu helfen? Auch wenn wir es wollten – wir schaffen das nicht! Wir können nicht allen helfen, wir können nicht alle aufnehmen. Wir können nicht alle satt machen! Dazu fehlen uns die Mittel und die Möglichkeiten, dazu sind wir zu wenige und haben zu wenig Einfluss…
Ein Blick für das Machbare
Vor dem Hintergrund so vieler aktueller Krisen und Katastrophen ist dieser Einwand heute genauso berechtigt wie damals am See Genesaret: Schweinezuchtprojekte in Afrika – was können sie tatsächlich bewirken? Mikrokredite – wie nachhaltig verändern sie bestehende Strukturen? Seenotrettung – was bringt sie wirklich? Oder, noch konkreter, auf der persönlichen Ebene: Was kann ich als Einzelne/r mit meinem Verhalten schon dazu beitragen, dass sich wirklich etwas ändert? Wenn ich fair einkaufe, was hilft das den Armen in Afrika? Wenn ich auf das Auto verzichte, was ändert sich dann am Weltklima? Wenn ich plastikfrei lebe, was bewirkt das für die Verschmutzung der Meere…
Markus, der Erzähler dieser Geschichte, kennt dieses menschliche Urdilemma offenbar nur zu genau. Interessant ist, welchen Lösungsansatz er Jesus anbieten lässt. Darin zeigt sich nicht nur der Menschenkenner – heute würde man sagen: der Psychologe. Darin zeigt sich auch der Pädagoge und Motivator, der mit dem klaren Blick für das Machbare von der Welt, wie sie ist, ausgeht und daraus realistische Handlungsoptionen entwickelt. Insofern ist diese Geschichte auch ein Paradebeispiel für gelungenes Coaching und Empowerment, für das Aufzeigen und Umsetzen von Handlungsalternativen.
Motiviert zum Handeln
„Er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach! Sie sahen nach und berichteten: Fünf Brote und außerdem zwei Fische. Dann befahl er ihnen, sie sollten sich in Mahlgemeinschaften im grünen Gras lagern. Und sie ließen sich in Gruppen zu hundert und zu fünfzig nieder. Darauf nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie diese an die Leute austeilten. Auch die zwei Fische ließ er unter allen verteilen.“ (Mk 6,38-41)
Jesus geht nicht weiter auf den besorgten Einwand der Jünger ein, er ruft zum Handeln auf. Sein Impuls lautet: Fangt mit dem an, was da ist – und kümmert euch nicht um das, was nicht da ist oder noch fehlt. Der Mangel wird weder schöngeredet noch ignoriert, sondern nüchtern konstatiert: Ja, es sind wirklich lächerlich wenige Brote und Fische für die mehr als 5.000 Menschen. Aber dieser Mangel wird nicht zum Vorwand für Resignation oder Frust, sondern zur Motivation für Veränderung und Handeln. Die Frage lautet nicht: Was brauchen wir noch? Die Frage lautet: Was haben wir schon?
Zutat Hoffnung
Wie so oft bei Markus leitet Jesus dazu an, die Perspektive zu wechseln: Weg vom Minus – hin zum Plus. Eine solche aktive Haltung angesichts eines offensichtlichen Mangels mag auf den ersten Blick erschreckend naiv oder provozierend realitätsfern erscheinen. Es ist ein Handeln wider besseres Wissen. Doch unter der Perspektive Jesu wird es zur Keimzelle der Veränderung. Die entscheidende Zutat dabei ist die Hoffnung, wie sie im Lobpreis Jesu an den Vater (Mk 6,41) sichtbar wird. Es ist Hoffnung in gut biblischem Sinn: Eine Haltung, die in der hoffnungsvollen Gewissheit wurzelt, dass eine andere Welt nicht nur möglich ist, sondern bereits begonnen hat. Eine solche Haltung bedeutet nicht naiv-resignative Vertröstung, sondern realistisch-handlungsorientierte Zuversicht. Sie motiviert dazu, aktiv zu werden – weil es begründete Zuversicht gibt, dass der Mangel des Anfangs sich am Ende in Fülle verwandeln lässt: „Und alle aßen und wurden satt. Und sie hoben Brocken auf, zwölf Körbe voll, und Reste von den Fischen. Es waren fünftausend Männer, die von den Broten gegessen hatten.“ (Mk 6,42-44) Der Rest ist bekannt – es ist sozusagen der biblische Vorläufer des merkelschen „Wir schaffen das“. Alle aßen und wurden satt; ja, es bleibt sogar noch etwas übrig. Hoffnungshandeln beseitigt Mangel, Solidarität schenkt Fülle und erzeugt sogar noch Überschuss – so lautet das Fazit des Markus.
Handeln…
Wer diese Wundergeschichte etwas genauer liest, erkennt auch zahlreiche Verbindungen zum Alten Testament: So erinnert das gruppenweise Lagern in 100 und 50 an die Wüstenwanderung Israels nach dem Auszug aus Ägypten (vgl. Ex 18,25); das grüne Gras, in dem sich die Menschen niederlassen, lässt die grünen Auen des 23. Psalms aufscheinen, auf denen der Hirte seine Schafe lagern lässt. Und die Erzählung von der wundersamen Speisung als Ganze erscheint wie die Neuauflage einer Geschichte, die Jahrhunderte vorher vom Gottesmann Elischa berichtet wird (2 Kön 4,42-44). Damit wird klar: Was hier erzählt wird, steht in der langen Tradition der Geschichte Israels mit Gott und ruft in Erinnerung, was von Anfang an gilt: Solidarisches Handeln im Vertrauen auf bzw. vor Gott ist nicht selten ein scheinbar paradoxes Handeln – einerseits im realistischen Wissen, dass es eigentlich nicht reicht, andererseits mit der hoffnungsvollen Gewissheit, dass es am Ende mehr als reicht.
…und dann die Hoffnung dazugeben
Die Wundergeschichte liefert ein anschauliches Beispiel dafür, dass kein Projekt zu klein, keine Idee zu abwegig und kein Tun zu sinnlos ist, wenn es darum geht, anderen zu helfen, Not zu lindern und Mangel zu beheben. Sie ist damit so etwas wie eine Ermutigung zu hoffnungsfrohem Handeln.
„Gebt ihr ihnen zu essen!“ Dieser Auftrag Jesu will wörtlich verstanden werden: Es geht darum, möglichst alle Menschen satt zu machen. Doch der Aufruf reicht über diese konkrete Interpretation hinaus: Es geht zugleich darum, angesichts schier unmöglich erscheinender Erfolgsaussichten dennoch mit dem (Wenigen) zu beginnen, was da ist. Und dann die Hoffnung dazuzugeben. Hoffnung nicht als verzweifelte Option, die zuletzt stirbt, wenn nichts mehr hilft. Sondern Hoffnung als Gewissheit, dass das Wenige nicht zu wenig, dass das Unbrauchbare nicht ungeeignet und dass das Unwahrscheinliche nicht irreal ist.
Die Hoffnung kommt zuerst.
Unser Autor:
Claudio Ettl ist Theologe, Bibliker und Autor, außerdem stellvertretender Direktor der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg und Leiter des Katholischen Bibelwerks Bamberg.