Achtung, zerbrechlich!
Der Mensch ist fragil – wir erfahren unser Leben als zerbrechlich, als etwas, das schnell von heute auf morgen ganz anders aussehen kann. Die „Fragilität“ ist etwas, um das wir im Leben nicht herumkommen, denn sie ist unauflöslich mit unserem Menschsein, unserer Endlichkeit verbunden. Und dennoch können wir diese Tatsache auch nach zwei Jahren der Pandemie, die uns unsere Fragilität auf brutale Art vor Augen geführt und uns gezeigt hat, dass unsere Lebensweise auch von einem mikroskopisch kleinen Virus völlig durcheinander gebracht werden kann, nicht akzeptieren.
Fragilität – was bedeutet das? Bruder Luciano Manicardi, ein Mönch aus Bose, definiert sie in seinem Buch mit dem Titel „Fragilità“ so: „Zerbrechlich oder fragil ist, was zerbrochen werden kann, entweder plötzlich oder als Folge eines langsamen Abnutzungsprozesses, durch Erosion, bedingt durch äußere oder innere Faktoren.“ Diese Zerbrechlichkeit zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen: „Körperliche oder psychologische Schwäche, Behinderungen, moralische und intellektuelle Schwäche und Schwächen, die mit dem jeweiligen Lebensalter einhergehen.“ Dann gibt es auch die soziale Fragilität, wie zum Beispiel die Schwierigkeit, eine Arbeit zu finden oder die Gefahr, sie zu verlieren, und auch hinsichtlich der Umwelt, auf deren Zerbrechlichkeit wir keine Rücksicht nehmen, indem wir sie kontinuierlich zerstören.
Schwach oder doch stark?
Oft findet man für die körperliche Schwäche einen Grund, eine Entschuldigung. Anders ist es bei der psychologischen Zerbrechlichkeit, die oft auch mit einer Krankheit verwechselt wird, was aber nicht immer zutrifft. Aber können wir uns so sicher sein, dass Empfindsamkeit nur ein Zeichen für ein unwichtiges Unwohlsein, für Unreife, für eine Krankheit oder das Fehlen von Sinn ist? Oder verbergen sich dahinter auch Werte wie Zartheit, Sensibilität, Freundlichkeit und die Einheit von seelischem Zustand und Gefühlen? Die sogenannten „schwachen“ Gefühle sind letztendlich die, denen man am häufigsten begegnet: Traurigkeit und Schüchternheit, Sensibilität und Unruhe, Freude und Glück, Freundschaft und Mitgefühl, Freundlichkeit und Sanftheit, Zuwendung und Zärtlichkeit. „Wenn sie nicht schwach wären, würden diese Gefühle ihre menschliche Bedeutung und ihre Ausdruckskraft verlieren. Sie sind schwach, eben weil sie schnell zersplittern, sie können nicht gegenüber dem Packeis der Gleichgültigkeit, den triumphierenden Technologien oder den Idolen des Konsums bestehen, und deshalb müssen sie geduldig und mit großer Aufmerksamkeit gehütet werden. Die zerbrechlichen Gefühle tragen in sich die leuchtenden und schmerzhaften Zeichen der verletzten Menschheit, deshalb sind sie so empfindlich. Das sollten wir nie vergessen.“ Das sind die Worte von Eugenio Borgna, emeritierter Oberarzt der Psychiatrie des Ospedale Maggiore in Novara, einer der herausragenden Köpfe der phänomenologischen Psychiatrie und Autor des Werkes „Die Zerbrechlichkeit in uns“ (Verlag Einaudi). „Die Erfahrungen, die ich im Bereich der Psychiatrie sammeln konnte, gebieten mir, sofort zu sagen, dass die Zerbrechlichkeit zum Leben dazugehört und uns dabei hilft, einen Sinn zu finden, auf den man nicht verzichten sollte. Die Zerbrechlichkeit ist eine menschliche Erfahrung, die den Dingen, die man tut, und den Worten, die man spricht, das Siegel des Angenommenseins und der Sanftheit, des Zuhörens und des Verständnisses einprägen. Die Zerbrechlichkeit ermöglicht es uns, der Wüste des Egoismus und der Gleichgültigkeit und auch der Aggressivität zu entfliehen. Und mehr noch: Sie stärkt in uns den Wunsch, aus unserem eigenen Ich hinauszutreten und hilft uns, das Leben als gemeinschaftliches Schicksal in Freude und Leid zu leben.“
Ein stummer Schrei
Aber wenn Empfindsamkeit all das bedeutet, warum fällt es uns dann so schwer, sie bei uns und den anderen zu akzeptieren? Dazu schreibt Professor Borgna: „Tatsache ist, dass die Empfindsamkeit normalerweise für eine Erfahrung gehalten wird, von der man sich besser fernhalten sollte und für die man sich schämt und über die man nicht spricht, als wäre es eine psychische Krankheit. Das ist sie aber keinesfalls, aber es ist wichtig, über dieses Thema nachzudenken. …. Wir alle sind aufgerufen, die Zerbrechlichkeit zu erkennen und zu respektieren, die sich in der durch Schüchternheit oder Unsicherheit, durch Seelenschmerz oder Schweigen verletzten Sensibilität verbirgt. Es ist diese menschliche Verletzbarkeit, die uns Tag für Tag begegnet. Diese Verletzlichkeit ist wie ein stummer Schrei, den wir nur dann hören, wenn wir aufmerksam und sensibel sind. Die Verletzlichkeit wahrzunehmen, die sich in den Herzen der Anderen verbirgt, ist noch wichtiger, als unsere eigene Verletzlichkeit zu erkennen. Verletzbarkeit verunsichert aber auch, denn sie bringt uns dazu, über den Sinn des Lebens und die Beziehungen, die wir zu unseren Mitmenschen haben, nachzudenken. Sie konfrontiert uns mit Erfahrungen, die wir lieber vergessen würden und die durch die Empfindsamkeit wieder an die Oberfläche kommen, weil es sich dabei um Erfahrungen handelt, die eigentlich nicht vergessen werden sollten. Wir werden also durch unsere Zerbrechlichkeit gezwungen, unser Handeln und unser Leben zu reflektieren und zu überdenken, aber das ist im Prinzip eine gute Sache, denn es kann zu einer Quelle der Meditation, des Zuhörens und des Gebets werden.“
Fragilität als Brücke
Dichter und Poeten haben seit jeher tief in das Wesen der Menschen geschaut und deshalb schon immer über die Empfindsamkeit geschrieben, auch wenn ihre Verse von den Gräueltaten in Kriegen handeln. Ein Beispiel dafür ist das Lied Brüder („Fratelli“) von Giuseppe Ungaretti: „Von welchem Regiment seid ihr / Brüder? / Zitterndes Wort / In der Nacht / Neugeborenes Blatt / In der schmachtenden Luft / Unfreiwillige Revolte / Des Menschen, gegenwärtig seiner / Zerbrechlichkeit. / Brüder.“ Und in der Tat, so Professor Borgna, „sollten wir aus dem Erkennen unserer eigenen Zerbrechlichkeit und der der Menschen, die uns vertraut sind oder die uns in unserem Leben begegnen, lernen, freundlich und zugewandt zu sein. Die Akzeptanz unserer Zerbrechlichkeit (wir sollten uns eher Sorgen machen, falls wir nicht verletzlich wären) ist eine große Hilfe, um die Verletzbarkeit des Anderen zu erkennen. Sie ermöglicht es uns, uns in den Anderen hineinzuversetzen, seine Unsicherheiten, Ängste und Verzweiflung nachvollziehen zu können. Die Zerbrechlichkeit ist wie eine Brücke, die es uns erlaubt, aus unserer Einsamkeit und unserer Abschottung, unseren Sorgen und unserem Egoismus hinauszutreten.“
Hier kommt uns auch ein anderes wichtiges, menschliches Kennzeichen zur Hilfe, die Empathie, eine gefühlsmäßige Haltung, die uns das Leid anderer spüren lässt, als wäre es unser eigenes. Dazu führt Professor Borgna weiter aus: „Ja, die Empathie ist die Voraussetzung dafür, dass wir die anderen erkennen, ihre Gedanken und Gefühle verstehen, aber auch, um heilen zu können, zum Beispiel für Ärzte und ganz besonders für Psychologen und Psychiaterinnen. Empathie ist nicht gleich Sympathie: Wir können uns in das Innere eines anderen Menschen versetzen, auch wenn er oder sie uns nicht sympathisch ist, aber natürlich ist es ideal, wenn beides gegeben ist. Deshalb sollte uns die Zerbrechlichkeit, die – wie Hugo von Hofmannsthal behauptet hat – der Erzfeind der Gewalt ist, lehren, in uns zu schauen, unserem Weg zu folgen, der in unser Innerstes führt, wo, wie der heilige Augustinus sagte, die Wahrheit lebt. Denn die Zerbrechlichkeit lehrt uns auch, den existentiellen Dingen die richtige Bedeutung beizumessen und Worte und Taten zu wählen, die uns selbst helfen, aber auch den anderen. Nur, wenn wir versuchen, in Beziehung zu unseren Mitmenschen zu treten und das herauszufinden, was uns verbindet, geben wir unserem Leben einen Sinn. Und um dieses wichtige Ziel zu erreichen, sind uns Sanftheit und Geduld, Großzügigkeit und Zärtlichkeit eine große Hilfe – Gefühle, die wir dank der Fragilität leichter erkennen.“
Licht und Schatten
Zerbrechlichkeit also als inneres Leuchten, das uns helle und tiefe Seiten an uns selbst und Anderen entdecken lässt. Aber Empfindsamkeit ist auch Schatten und Dunkelheit. Professor Eugenio Borgna schließt mit den Worten: „Wir dürfen niemals vergessen, dass Zerbrechlichkeit auch Grund für Leid und Traurigkeit sein kann, aber genau das macht sie menschlich und hilfsbedürftig. Wir haben die Ressourcen, um auch diese Seite der Zerbrechlichkeit anzunehmen. Wenn uns auf einmal bewusst wird, dass wir wegen Schmerzen oder Sorgen, Trauer oder Krankheit zerbrechlich geworden sind, wird es uns gelingen, dies alles gut anzunehmen, wenn wir Glaube und Hoffnung, Gebet und Meditation in uns tragen, die in jedem Lebensbereich sehr wichtig sind. Natürlich benötigt eine plötzliche Zerbrechlichkeit manchmal spirituelle Hilfe, aber auch psychologische oder einfach nur menschliche Unterstützung. In diesem Fall ist es das Wichtigste, zuzuhören, dem Anderen unsere freundschaftliche Anwesenheit und unsere Anteilnahme an seinem oder ihrem Schmerz zu zeigen, durch freundliche, ehrliche und behutsame Worte, die von Herzen kommen uns nicht aus der Kühle der Rationalität. Das gelingt besonders einfachen Menschen gut, die selbst Einsamkeit und Seelenschmerz kennengelernt haben und deshalb wissen, welche Worte guttun. Auch ein Lächeln oder eine Geste wie ein einfacher, sachter Händedruck können hilfreich sein.“
Die Kraft der Zerbrechlichkeit
Im spirituellen Bereich verliert also die Zerbrechlichkeit ihre Schattenseiten. Das wiederholen uns im christlichen Kontext die Heiligen Schriften, in denen die Zerbrechlichkeit immer in klassischen Situationen hervortritt, in denen Gott seine Gnade zeigt. Der heilige Paulus schreibt im Zweiten Brief an die Korinther: „Er aber antwortete mir; meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. […] Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ (2 Kor 12,9-10)
Pater Guidalberto Bormolini, Ordensmann, Schriftsteller,Anthropologe und Thanatologe, ist der Meinung, dass „die Frage der Zerbrechlichkeit zentral ist, denn sie ist ein elementarer Bestandteil unseres Lebens. Die Genesis erinnert uns daran, dass wir nach einem Sturz Schmerz und Mühe erfahren und Krankheit und Tod in unser Leben treten. Wenn wir das nicht akzeptieren, riskieren wir einen Bruch zwischen der unvermeidlichen Realität, also unserer Zerbrechlichkeit, und der Illusion ewiger Jugend. Und dennoch meine ich, behaupten zu können, dass Verletzlichkeit und Empfindsamkeit noch nicht einmal während der Pandemie akzeptiert wurden. Wir wollten dieser Erfahrung den Stempel einer außergewöhnlichen Lage aufdrücken, was durchaus auch in der Wahl der Worte aus dem Kriegsjargon zum Ausdruck kommt. Fakt ist aber, dass es in der Geschichte der Menschheit schon immer Epidemien gegeben hat, auch wenn wir seit ein paar Jahrzehnten versucht sind, uns nicht daran zu erinnern. Und deshalb geht es den Menschen heute schlechter. Denn es gelingt uns nicht, zuzugeben, dass Verletzlichkeit, Zerbrechlichkeit, Endlichkeit Bausteine eines jeden von uns sind.“ Wenn das stimmt, dann müssen wir darin den spirituellen Sinn suchen, denn nichts auf der Welt besteht ohne eine Bedeutung. Dazu weiter Guidalberto Bormolini: „Den Sinn könnten wir so zusammenfassen: Wenn wir nicht schwach und verletzlich wären, wenn wir das Gefühl hätten, uns selbst zu genügen, dann würden wir das Vertrauen in das Unsichtbare verlieren. Die Empfindsamkeit ist eine Gabe Gottes, eben weil sie uns zwingt, unseren Blick zu weiten. Die Zerbrechlichkeit ist ein Geschenk, das uns gegenüber dem Geheimnis des Unsichtbaren öffnet, jenem Teil von uns, der nicht schwach und zerbrechlich ist, der nicht sterblich ist, weil er jener göttliche Funke ist, den wir alle in uns tragen. Wenn es uns gelingt, dank unserer Zerbrechlichkeit unser Leben so auszurichten, dass wir uns mit diesem göttlichen Funken identifizieren können, dann wird sie eine Gabe, die uns selbst göttlich werden lässt.“
Akzeptanz der Endlichkeit
Das hört sich einfach an. Doch es gibt ein Aber. Wie soll man vom Verstehen zur Handlung gelangen? Oder, anders ausgedrückt: Wie können wir die tiefe spirituelle Bedeutung der Zerbrechlichkeit begreifen? Pater Bormolini hat eine Antwort: „Wir haben unzählige Möglichkeiten. Da ist vor allem der Bereich der Kultur, zum Beispiel Zeitungen, die sich viel häufiger mit den Themen der Fragilität und der Endlichkeit auseinandersetzen sollten. Oder der Bereich von Erziehung und Bildung. Diese Themen sollten in den Lehrplan aufgenommen werden. Wir sollten den Kindern schon früh beibringen, dass wir sterblich und schwach sind, und dass wir alle das sind. Aus diesem Bewusstsein wächst nicht nur das Mitgefühl, sondern wahre menschliche Ethik. Auch wir als Kirche sollten ein Bündnis zu diesem Thema schließen, auch gemeinsam mit Gläubigen anderer Religionen. Wir sollten den Mut haben, diese Dimensionen zu betreten und zu lernen, den Menschen in ihrer Zerbrechlichkeit beizustehen. Schließlich haben wir ein Allzweckwerkzeug zur Hand, um die Grenzen unseres menschlichen Daseins anzunehmen, und zwar das stille, tiefe Gebet, jene geistliche Besinnung und Meditation, die zu den Ursprüngen der Kirche gehörte und die das Christentum heute wiederentdeckt, auch dank Papst Franziskus. Bei der christlichen Meditation bleibt unser Körper, den wir als unsterblich empfinden, ruhig und still, so als wäre er tot, unser Geist, der sonst immer aufgeregt und unruhig ist, hält inne, so als wäre er tot, die Worte verstummen, so als wären wir tot, und aus dieser dem Tod ähnelnden Situation wächst das geistliche Leben, denn unser Geist verbindet sich mit unserem Herz. Das ist eine sehr tiefgehende Erfahrung, durch die wir erleben können, dass das scheinbare Sterben von Körper und Geist etwas Neues hervorbringt; dass Grenzen anzuerkennen und unsere Zerbrechlichkeit anzunehmen es uns in Wirklichkeit erlaubt, in eine andere Dimension des Lebens einzutreten. Das tiefe Gebet und die Meditation helfen dabei, von der menschlichen Zerbrechlichkeit zur völligen Hingabe an die göttliche Allmacht zu gelangen.“
Natürlich kann man dem allen auch entgegenhalten, dass es sehr hart sein kann, die eigene Zerbrechlichkeit zu leben, denn häufig bringt sie einen tiefen Schmerz, Angst, Tränen und nicht nur sanftes Lächeln mit sich. Guidalberto Bormolini entgegnet darauf: „Ich persönlich bin der Meinung, dass sowohl Tränen als auch Lächeln notwendig sind. Wir dürfen uns nicht durch unsere Tränen verstören lassen, denn Tränen sind fließendes Wasser, lebendiges Wasser. Fließendes Wasser spendet Leben und kann deshalb auch das Lächeln zum Erblühen bringen. Unser Leben ist schmerzlich gekennzeichnet von unserer Ignoranz: Wir glauben, zu wissen, aber das stimmt nicht. Wir wissen nicht, was Glück ist und verwechseln es vielleicht mit einem Traumurlaub. Wir wissen nicht, was Liebe ist, und verwechseln sie vielleicht mit der Grobheit der Pornografie. Wenn wir jedoch begreifen, dass es unsere Zerbrechlichkeit ist, die uns zum Göttlichen hin öffnet, denn schließlich hat Gott uns durch die Zerbrechlichkeit erlöst, dann ist auch ein echtes Lächeln möglich. Wir sagen ja beispielsweise ‚Ich bin ans Bett gefesselt‘ und meinen damit, dass wir uns hilflos fühlen, unsere Würde verloren haben, und vergessen dabei, dass es der ans Kreuz Gefesselte war, der die Welt gerettet hat.“
Gutes Leben, guter Tod
Höhepunkt der menschlichen Zerbrechlichkeit ist der Tod, unser eigener und der unserer Lieben. Das ist das, vor dem wir am meisten Angst haben, und deshalb versuchen wir auch, jeden Gedanken daran so fern wie möglich zu halten. Pater Bormolini hat eine gewisse Vertrautheit mit dem Tod, denn er hat es als Thanatologe nicht nur zu seinem Studieninhalt gemacht, sondern auch viele sterbende Menschen begleitet. „Das ist die zentrale Frage unseres Lebens. In unserer Gesellschaft tendiert man dazu, den Tod als Gegensatz von Leben zu sehen, aber das ist ein Fehler. Das lehrt uns die Anthropologie. Denken wir nur an die uralte Kultur der Initiationsriten, wenn ein junger Mensch durch einen Ritus zum Erwachsenen wird. Wer sich mit diesem Thema beschäftigt, weiß, dass diese Riten eigentlich ein symbolischer Prozess von Tod und Wiedergeburt sind, in dem der junge Mensch seine Kindheit sterben lassen muss, um in das neue Leben des Erwachsenen eintreten zu können.
Wir sollten also auch lernen, dass der Tod eigentlich Leben schenkt, dass er ein fruchtbarer Schoß ist. Er steht nicht im Gegensatz zum Leben, er ist mittendrin. Die Natur zu beobachten, kann uns helfen, das zu verstehen: Die Sonne geht unter, aber dann geht sie auch wieder auf. Im Winter sterben die Pflanzen und im Frühling erwachen sie zu neuem Leben. Das tote Korn wird Samenkorn. Aber es hilft auch, unser Leben bewusst zu leben. Der Tod macht uns Angst in Verbindung mit der Zeit: Wenn uns bewusst wird, wie die Zeit vergeht und uns nur noch wenig Zeit bleibt, bekommen wir Angst, weil wir vielleicht nicht bewusst genug gelebt haben, nicht genug geliebt haben oder nicht glücklich waren, weil Glück eben nicht Besitz, sondern liebevolle Beziehungen bedeutet. Dann also kommen wir erschrocken und besorgt am Ende unseres Lebensweges an, denn wir haben das Gefühl, als würde die Zeit uns das Leben rauben. Dabei hat die Zeit nichts mit dem Leben zu tun, wohl aber mit dem Tod. Wenn ich bewusst und intensiv all das Gute lebe, das mir mein Leben bereithält, dann findet mich der Tod gesättigt vor, weil ich gelebt habe.
Leben bedeutet Liebe, und an den Tod als unsere letzte Zerbrechlichkeit zu denken, hilft uns, besser zu leben und besser zu lieben, eben weil wir wissen, dass unsere Zeit auf Erden nicht unendlich ist. Der Tod als höchster Gipfel unserer menschlichen Verletzlichkeit, die Apotheose der Zerbrechlichkeit, streichelt uns als Lebende, nicht als Tote.“