Wohin im Alter?
Jüngst berichteten die Medien in Deutschland: Der Pflegeversicherung droht die Pleite. Eine Meldung, die die öffentliche Aufmerksamkeit wieder einmal auf die Krisensituation der Pflege aufmerksam gemacht hat. Für viele, gerade für Menschen im Alter, ist das eine existenzielle Frage. Wohin, wenn man alleine nicht mehr zurecht kommt?
Ein Mitbruder war vor einiger Zeit ganz aufgeregt. Einer gemeinsamen, gut 80-jährigen Bekannten ging es seit Jahren schlecht. Zwar mit wachem Verstand, aber bettlägerig lebt sie seit bald fünf Jahren im Altenheim. Sie braucht Pflege rund um die Uhr. Die gläubige Frau hadert mit Gott – aber mehr noch mit ihrer einzigen Tochter. Denn die hat sie, auch wenn aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten ist, unter Druck gesetzt, ihre vermeintlich „unwürdige und belastende Existenz“ zu beenden: Mittels „assistiertem Suizid“ kann man sich in Deutschland, wenn auch im rechtlichen Graubereich, ein tödliches Mittel beschaffen und bereitstellen lassen. Die Mutter solle dies nun endlich tun, denn sie wäre allen nur noch eine Last. Und wenn sie es nicht täte, wäre sie für die einzige Tochter nun ohnehin gestorben.
Mich hat diese Geschichte umgehauen. Denn sie führte mir an einem Menschen, den ich persönlich kannte, vor Augen, wohin sich eine Gesellschaft in theoretischen Diskussionen rund um Sterbehilfe zu entwickeln droht. Und nun offensichtlich nicht in der Theorie, sondern in erschreckender Praxis. Wenn Leben stört und zur Last wird, dann muss es eben weg.
Ich kann nicht jedes Detail dieser Geschichte, die mein Mitbruder erzählt hat, verifizieren. Aber es klingt durchaus plausibel, und mittlerweile habe ich auch im Internet die Todesanzeige der gemeinsamen Bekannten gefunden. – Zusammen mit der jüngsten Berichterstattung um die Schweizer „Suizid-Kapsel“ namens „Sarco“, bei welcher der Tod durch Zuführen von Stickstoff selbst herbeigeführt wird, hat sich mir wieder einmal die Frage gestellt: Wohin im Alter? Wohin, wenn alles nicht mehr wirklich geht?
Immer mehr Pflegebedürftige
Im Idealfall bleibt man möglichst lange fit und gesund, lebt zu Hause in den eigenen vier Wänden, fällt niemandem zur Last und versorgt sich selbst. Die Wirklichkeit sieht anders aus, wenn das Statistische Bundesamt feststellt: „Immer mehr Menschen sind in Deutschland im Zuge der Alterung der Gesellschaft von Pflegebedürftigkeit betroffen.“ Der deutsche Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach spricht gar von einer „geradezu explosionsartigen Erhöhung“ der Pflegebedürftigen. So hätten es 2023 aufgrund der demografischen Entwicklung statistisch hochgerechnet etwa 50.000 mehr Menschen mit Pflegebedarf sein „müssen“, tatsächlich betrug das Plus aber mehr als 360.000 Personen. Insgesamt sind in Deutschland derzeit etwa 5,6 Millionen Menschen pflegebedürftig, also etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung.
Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik werden zu Hause versorgt, meist durch pflegende Angehörige, durch Pflegekräfte aus (meist) Osteuropa oder unterstützt von ambulanten Pflegediensten, die bei Bedarf auch mehrmals täglich ins Haus kommen.
Zu wenig Platz
Wenn es zu Hause nicht (mehr) geht, ist ein Umzug ins Pflegeheim unausweichlich. Doch in einer solchen Einrichtung einen freien Platz zu finden, wird immer schwieriger. Schlagzeilen wie „Pflegeheime überfüllt“ oder „Pflege-Notstand: Aus Krise wird Katastrophe“ sind längst an der Tagesordnung und bringen Pflegende und ihre Angehörigen in Sorge.
Der Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), Thomas Greiner, rechnet vor: „Bis 2040 benötigen wir jedes Jahr rund 17.000 zusätzliche Pflegeheimplätze! Doch anstatt den Ausbau und die Zukunft der Altenpflege voranzutreiben, verlieren wir weiterhin Plätze – allein im letzten Jahr etwa 16.000.“ Um überhaupt einen Platz in einem Heim zu bekommen, ist es keine Seltenheit, dass Angehörige etliche Heime abtelefonieren und den Radius dabei immer größer ziehen müssen.
Nicht nur in Deutschland stellt sich die Situation so dramatisch dar. In Österreich und der Schweiz ist die Lage nicht besser. Das Schweizer Gesundheitsobservatorium „Obsan“ stellt in seiner Untersuchung „Bedarf an Alters- und Langzeitpflege in der Schweiz. Prognosen bis 2040“ fest, dass der „Bedarf an Alters- und Langzeitpflege (…) aufgrund der Alterung der Bevölkerung bis ins Jahr 2040 (im Vergleich zum Referenzjahr 2019) um die Hälfte (+56%) steigen“ wird. Eine unveränderte Versorgungspolitik würde damit deutlich über 50.000 zusätzliche Langzeitbetten erforderlich machen. Doch die sind nicht in Sicht, weder jenseits noch diesseits der Alpen.
Mangel an Pflegekräften
Da mag es umso paradoxer erscheinen, wenn von Heimen berichtet wird, die ganze Stationen plötzlich schließen und die Zahl ihrer Betten reduzieren. Der häufigste Grund: ein gravierender Mangel an Pflegepersonal. Zur Abwechslung ein Blick nach Österreich: Dort ist ein Drittel des Pflegepersonals bereits über 50 Jahre alt und wird in den kommenden zehn Jahren in Rente gehen. Wegen der sich abzeichnenden Pensionierung der Babyboomer-Generation und der demografischen Entwicklung, d.h. der immer größeren Zahl alter und pflegebedürftiger Menschen, würden allein bis zum Jahr 2030 76.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt. Zwar werden aktuell gut 5.000 Personen im Bereich der Pflege ausgebildet, allerdings müsse man hier einbeziehen, dass nur etwa 80 Prozent der Absolventinnen und Absolventen tatsächlich in den Pflegeberuf einsteigen, so Brigitte Juraszovich, stellvertretende Leiterin der Abteilung Gesundheitsberufe und Langzeitpflege in der „Gesundheit Österreich“, einem nationalen Forschungs- und Planungsinstitut im Gesundheitswesen.
In Deutschland soll die Umstellung von der „Fachkraftquote“ auf das neue Personalbemessungsverfahren bis spätestens 2025 vollzogen sein. Doch letztlich wird auch hier nur der Mangel verwaltet, und Rechenspiele können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pflegekräfte faktisch fehlen.
Von Leiharbeit und Gewinnmaximierung
Eine Lösung, die keine echte Lösung ist, weil sie nicht für ein Mehr an Pflegefachkräften sorgt, sondern nur für eine Umverteilung: Viele Pflegeeinrichtungen greifen auf Leiharbeiter/innen zurück. Pflegekräfte wechseln in Leiharbeit, so stellt es die Gewerkschaft ver.di fest, weil sie dort vor allem besser planbare Arbeitszeiten geboten bekommen und insbesondere in der Altenpflege auf den ersten Blick auch eine bessere Bezahlung als die Stammbelegschaft. Sie können sich ihre Schichten besser aussuchen und müssen im Gegensatz zu den festen Mitarbeiter/innen in der Regel nicht kurzfristig einspringen. Für die Arbeit der Teams vor Ort ist der Rückgriff auf Leiharbeit nicht immer unbedingt förderlich, ganz zu schweigen von den Pflegebedürftigen, die sich unter Umständen auf ständig wechselndes Personal einstellen müssen. Vertrauensverhältnisse sind da schwer aufzubauen. Und schließlich moniert ver.di: „Zur Wahrheit gehört auch, dass Leiharbeitsfirmen Gewinn machen wollen. Der speist sich aus unseren Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern, die für eine gute Pflege gedacht sind, nicht zur Gewinnmaximierung.“
Hilfe aus dem Ausland
Das Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland ist derzeit wohl der effektivste Weg, möglichst rasch qualifiziertes Personal zu bekommen – und auch wer politisch im rechten Spektrum wählt, wird um die Tatsache nicht herumkommen, dass wir ohne Arbeitskräfte aus anderen Ländern in vielen Bereichen unserer Wirtschaft und Gesellschaft längst handlungsunfähig wären. Vor allem indische Ordensschwestern sind mittlerweile zu einer tragenden Säule im Pflegewesen geworden – kaum ein Caritas-Altenheim, wo nicht Ordensfrauen aus Asien Dienst tun würden. Dort werben professionelle Agenturen aber auch um junge Menschen, die ihre Zukunft fern der Heimat sehen. Ein Anbieter schreibt beispielsweise: „Da die Nachfrage nach Fachkräften im Gesundheitswesen weiter steigt, ist Deutschland ein beliebtes Ziel für Krankenschwestern und -pfleger, die nach neuen Möglichkeiten suchen. Das gut strukturierte Gesundheitssystem des Landes, die hervorragenden Arbeitsbedingungen und die attraktiven Gehälter machen es für viele zu einer guten Wahl.“ – Ob das jeder unterschreiben würde, der mit dem deutschen Gesundheitssystem näher vertraut ist, sei einmal dahingestellt. Doch nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit gab es 2022 unter den fast 1,7 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in den Pflegeberufen fast 250.000 ausländische Pflegekräfte. Deren Anteil hat sich zwischen 2017 und 2022 fast verdoppelt. Bei meinem letzten Aufenthalt in Indien habe ich immer wieder große Werbetafeln von Sprachschulen gesehen, die gezielt darauf vorbereiten, um in Deutschland (und natürlich auch anderen Ländern) als Pflegekraft zu arbeiten. Eine große Herausforderung sind dabei die kulturellen Unterschiede und das – im Vergleich zu Englisch – komplizierte Deutsch. Eine Onlineumfrage unter philippinischen Pflegekräften unter der Fragestellung „Wie zufrieden sind die philippinischen Pflegefachkräfte in Deutschland?“ hat ergeben, dass knapp die Hälfte ihren Job nicht an Freunde und Verwandte in der Heimat empfehlen würde. Die Gründe? Unter anderem Heimweh, Diskriminierungen am Arbeitsplatz, aber auch das Gefühl, zu wenig Wertschätzung im Beruf zu bekommen. Die Dokumentations-Bürokratie dürfte ihr Übriges dazu beitragen, dass die Arbeit auch als mühsam erlebt wird.
Technik muss helfen!
Wo Arbeitskräfte rar sind und im unterfinanzierten Pflegesystem einen bedeutenden Kostenfaktor darstellen, liegt da die Lösung vielleicht in der Robotik?
In Japan und einigen deutschen Heimen ist „Paro“ bereits erfolgreich unterwegs. Auch wenn diese „Pflege-Robbe“, eine Art Stofftier, keine körperliche Pflege übernehmen kann: Sie ist flauschig, kann mit den Augen klimpern und schnurrt, wenn man sie streichelt. Mit positiven Effekten wird sie vor allem bei Demenz-Patienten eingesetzt.
Roboter wie „Lio“, „Thea“ oder „Pepper“ sind schon eher in der Lage, Pflegekräfte zu unterstützen. Sie werden derzeit – häufig in Pilotprojekten – erprobt und verteilen beispielsweise Getränke, desinfizieren Türgriffe per UV-Licht, messen die Temperatur und erzählen Witze, von bayrisch bis türkisch.
Nach der Zukunft der Pflege gefragt, antwortet Prof. Dr. Sami Haddadin (München), Deutschlands wichtigster Robotik-Forscher: „Ich stelle mir vor, dass sich der Roboterassistent in einer Einrichtung oder zu Hause zu einer bestimmten Uhrzeit oder auf Zuruf einschaltet und den Pflegebedürftigen beispielsweise aus dem Bett hilft, die Pillendose befüllt und sie bei der Körperhygiene unterstützt. Letzteres ist für Menschen besonders wichtig, um sich ein Gefühl der Autonomie zu bewahren. Daher arbeiten wir viel an Roboterassistenten, die beim Kämmen, Zähneputzen oder Rasieren zur Seite stehen, ohne die Tätigkeiten ganz zu übernehmen. Fachkräfte haben leider dafür oft zu wenig Zeit. Meine Vision für die Pflege: Durch den Einsatz von Pflegeassistenten können sich Fachkräfte wieder mehr den zwischenmenschlichen, verbindenden Tätigkeiten widmen.“ – Dass die Roboter einfach übernehmen und es im Alter keinen menschlichen Kontakt mehr gibt, ist also mehr Science-Fiction-Szenario. Denn zwischenmenschliche Interaktion und emotionale Unterstützung wird auch in Jahren mit Maschinen nur bedingt möglich sein. Doch dass sie knappes Pflegepersonal so weit als möglich unterstützen, daran führt wohl kein Weg mehr vorbei.
Pflege im Ausland
In den letzten Jahren gestiegen ist die Zahl der Menschen, die vor dieser Situation auf dem heimischen Pflegemarkt quasi „fliehen“. Denn obendrein kommen für Pflegebedürftige in der Schweiz immens hohe Kosten hinzu: Die monatlichen Kosten für die Unterbringung in einem Pflegeheim belaufen sich dort auf CHF 10.216,00, wobei etwa zwei Drittel selbst aufzubringen sind. Da sind Pflegeeinrichtungen im Ausland deutlich günstiger. Heime in Polen, Tschechien und Ungarn haben sich auf deutschsprachige Klientel spezialisiert. Aber auch Spanien lockt und sogar bis nach Thailand wandern Menschen im Alter aus. Medial werden solche Geschichten gerne aufgegriffen, doch ein echtes Massenphänomen sind sie nicht. In jedem Fall will ein solcher Schritt gut überlegt sein, auch im Blick auf die Frage, welche Kosten die Pflegekasse in der Ferne eigentlich übernimmt.
Und ein Fazit?
Die eingangs gestellte Frage „Wohin im Alter?“ lässt sich kaum pauschal beantworten, da individuelle Umstände, gesellschaftliche Entwicklungen und der Pflegebedarf jedes Einzelnen eine Rolle spielen. Wer heute Pflege benötigt, findet in unseren Breitengraden meist Unterstützung in hoher Qualität – doch es gibt auch Lücken im System, besonders bei der Verfügbarkeit von Pflegeplätzen und der Belastung der Angehörigen. Klar ist: Ohne weitreichende Reformen, technologische Innovationen und gesellschaftliche Veränderungen wird es in der Pflege schwierig. Pflegeformen und -orte werden sich künftig stark verändern müssen, um dem steigenden Bedarf gerecht zu werden. Während meine älteren Mitbrüder heute noch in einem von Ordensfrauen geführten Pflegeheim bestens versorgt werden, werde ich wohl in einigen Jahrzehnten dieses Glück nicht mehr haben. Doch mit den richtigen Reformen und Weichenstellungen können auch zukünftige Generationen auf eine würdevolle Versorgung im Alter hoffen. Denn es gilt wohl auch fürs Alter und die Pflege: Unsere Welt hat sich schon immer verändert und es zeichnet uns Menschen aus, sich den wandelnden Umständen jeweils neu anzupassen.