Mein Recht – Dein Recht
In der Frage der gesetzlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen geht ein Riss durch die Gesellschaft. Kann der Staat seiner Schutzpflicht für das ungeborene Leben auch ohne eine Verankerung im Strafrecht genügen? Ein Blick in die Debatte in Deutschland.
Ende 2017 wurde eine Ärztin wegen des Verstoßes gegen das Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch aus § 219a des Strafgesetzbuchs verurteilt. Dieses Urteil war die Initialzündung für weiterführende Überlegungen zur Reform des Abtreibungsrechts, die die gesellschaftspolitische Debatte seither stark geprägt haben.
§ 219a beinhaltete das Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch. Dieses Werbeverbot wurde seinerzeit so ausgelegt, dass auch der bloße Hinweis einer Ärztin in einem Flyer oder auf ihrer Homepage, dass sie in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchführe, bereits als Verstoß gewertet werden konnte. Als es tatsächlich zu einer Verurteilung kam, war die Empörung groß: Wie konnte es sein, dass im Zeitalter der grenzenlos verfügbaren digitalen Information durch ein Gesetz aus der vordigitalen Zeit eine solche Information unter Strafandrohung gestellt wurde?
Schutz des Lebensrechts
Doch so einfach war es nicht, und entsprechend gab es auch keine einhellige Position in den politischen Parteien. Das Werbe- und Informationsverbot stand im Kontext der gesamten Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Für diesen galt und gilt, dass er (jedenfalls in den meisten Fallkonstellationen) im Widerspruch zur Rechtsordnung steht, da diese das Lebensrecht des ungeborenen Kindes schützt. Trotz dieser Rechtswidrigkeit kann aber beim Nachweis eines Konfliktberatungsgesprächs ein Schwangerschaftsabbruch straffrei vorgenommen werden. Das Werbe- und Informationsverbot hatte dabei die Funktion, zu vermeiden, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als normale medizinische Leistung dargestellt oder gar werbend angepriesen wurde. Das Verbot konnte daher als wichtiger Baustein des gesetzlichen Schutzes des ungeborenen Lebens begriffen werden.
Diese beiden Positionen – § 219a beibehalten oder abschaffen – trennten auch die damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD, die sich nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche Anfang 2018 erneut zu einer Großen Koalition zusammenrauften. Sie fanden auch auf diesem Gebiet einen Kompromiss: § 219a wurde beibehalten, aber gelockert. Die Kritiker des Werbe- und Informationsverbots, neben der SPD auch die damaligen Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen, FDP und LINKE, waren damit aber nicht zufrieden, und so war es wenig überraschend, dass sich die Ampel-Koalition Ende 2021 auf kaum ein politisches Ziel so schnell verständigen konnte wie auf die ersatzlose Abschaffung von § 219a.
Aus dem Strafrecht streichen?
Inzwischen war die gesellschaftspolitische Debatte aber weit über den Auslöser der Verurteilung einer Ärztin wegen verbotener Inhalte in einem Praxisflyer hinausgewachsen. Es ging nicht mehr nur um die Abschaffung des Werbeverbots, sondern gefordert wurde inzwischen auch die Herausnahme des Schwangerschaftsabbruchs insgesamt aus dem Strafrecht. Im Ampel-Koalitionsvertrag wurde neben der Abschaffung von § 219a die Einrichtung einer Expertenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung vereinbart, zu deren Aufgaben die Prüfung einer Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts gehört.
Uneinige Ampel-Regierung
Diese Kommission, deren Auftraggeber die Bundesminister der Gesundheit (SPD) und der Justiz (FDP) sowie die Bundesfamilienministerin (Grüne) sind, wurde Ende März 2023 eingesetzt. Der Arbeitsgruppe 1, die sich mit den Möglichkeiten einer Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches beschäftigte, gehörten ausschließlich Frauen an, überwiegend Wissenschaftlerinnen. Einige dieser Expertinnen weisen deutliche Bezugspunkte zu Interessengruppen auf, die sich für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts einsetzen, zum Beispiel zu Pro Familia und dem Deutschen Juristinnenbund. Die christlichen Kirchen sind bei der Besetzung der Kommission nicht berücksichtigt worden. Einen Abschlussbericht legte die Kommission Mitte April 2024 vor. Darin empfiehlt sie, Abtreibungen in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen zu legalisieren, und stellt es in das Ermessen des Gesetzgebers, dies mit einer Beratungspflicht zu verbinden. Ab der 22. Woche soll nach dem Votum der Expertinnen ein Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig bleiben. Für die Phase zwischen der 12. und der 22. Woche könne der Gesetzgeber entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein Abbruch straffrei sein solle.
Inwieweit die Bundesregierung den darin geäußerten Handlungsempfehlungen folgen will, war schon vor dem Ende der Ampel-Koalition ungeklärt, denn die Ampel-Fraktion ließ in der Frage der Verankerung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafrecht kein einheitliches Bild erkennen. Folgt man den bisherigen Aussagen der Fachpolitikerinnen und -politiker, zeichnete sich eine regierungsinterne Opposition der FDP, die den Status Quo verteidigte, gegenüber SPD und Grünen ab, die den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafrecht nehmen wollen und dazu auch entsprechende Beschlüsse in ihren Fraktionen gefasst haben. Die derzeit oppositionellen Unionsparteien sind wie schon in der Diskussion um § 219a für die Beibehaltung der geltenden Regelung. Immer geht es dabei nicht nur um gleichstellungspolitische, medizinische oder ethische Argumente, sondern auch um eine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung.
Geduldet, aber ohne Anspruch
Und dies hat seinen Grund und seine lange Vorgeschichte: In den vergangenen 50 Jahren gab es in der Bundesrepublik Deutschland zwei Versuche, die rechtliche Lage für ungewollt schwangere Frauen zu liberalisieren: 1974 beschloss der Deutsche Bundestag die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft. Damit wurde eine Fristenregelung beschlossen, die es seit 1972 schon in der DDR gab und dort auch bis zum Ende der DDR Gültigkeit hatte. In Westdeutschland hatte diese Regelung aber keinen Bestand, da das Bundesverfassungsgericht entschied, dass eine reine Fristenregelung den vom Grundgesetz gebotenen Schutz auch des ungeborenen Lebens verletze und vernachlässige. Der Konflikt der Rechtsgüter – Lebensrecht des ungeborenen Kindes, Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowohl des Kindes wie der Frau – wurde 1976 in einer Indikationsregelung aufgelöst. Danach wurde der Schwangerschaftsabbruch zugelassen, wenn eine vom Arzt oder einer Ärztin festgestellte Indikation vorlag. Auch die so genannte soziale Indikation wurde anerkannt – die Möglichkeit zum nicht strafrechtlich verfolgten Schwangerschaftsabbruch war also nun auch unabhängig von medizinischen Gründen möglich. Seit diesem Zeitpunkt hat die Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland faktisch geduldet, dass jede Frau, die ihre Schwangerschaft nicht fortsetzen will, dazu auch mit guter medizinischer Betreuung und ohne Risiko der Strafverfolgung die Gelegenheit hat. Der Unterschied zur rechtlichen Situation in der DDR war der fehlende Anspruch auf einen Schwangerschaftsabbruch. Die Indikationslösung war als Ausnahmeregelung von der Regel des rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs konzipiert. Die Ärztinnen und Ärzte waren die „Gatekeeper“ – die ungewollt Schwangere war von ihrer Indikationsstellung abhängig.
Fristenregelung mit Beratungspflicht
Mit dem Ende der DDR rückte dieser grundlegende Unterschied wieder ins Bewusstsein. Im Vertrag über die Wiedervereinigung, die als Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erfolgte, wurde ausgerechnet auf diesem sensiblen Gebiet davon abgesehen, dass nur noch die westdeutsche Regelung in ganz Deutschland gelten sollte. Vielmehr sollte der gesamtdeutsche Bundestag eine Regelung für ganz Deutschland erst beschließen; bis dahin galten in Ost und West unterschiedliche Gesetze. Der Deutsche Bundestag beschloss nach intensiver Debatte 1992 eine Fristenregelung mit Beratungspflicht. Die Entscheidung einer schwangeren Frau für einen Schwangerschaftsabbruch sollte also nicht mehr von einer anderen Person, dem indikationsstellenden Arzt oder der Ärztin, abhängig sein. Zugleich sollte durch die Beratungspflicht auch der Gedanke des Schutzes des ungeborenen Lebens im Verfahren verankert bleiben. Dieser Paradigmenwechsel wurde politisch möglich, indem der Bundestag bei dieser Frage nicht entlang der Fraktionsgrenzen entschied und eine Reihe von weiblichen Abgeordneten der Unionsparteien für die Fristenregelung mit Beratungspflicht stimmten.
Grundlegender Schutz des Lebens
Auch dieser zweite Anlauf, in der Bundesrepublik Deutschland eine Fristenregelung einzuführen, war nicht von Dauer. Erneut wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen, und erneut verwarf das Gericht das Gesetz, weil es der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens nicht ausreichend Rechnung trug. In seiner bis heute maßgeblichen Entscheidung von 1993 stellte das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klar, dass keine Regelung mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, die das Lebensrecht des ungeborenen Kindes hintenanstellt. Da der Schutz des Lebens so grundlegend für die Rechtsordnung ist, schloss das Verfassungsgericht auch eine Regelung außerhalb (bzw. unterhalb) des Strafrechts ausdrücklich aus. Zugleich zeigte das Bundesverfassungsgericht aber auch auf, welchen Weg es akzeptieren würde. Daraus entstand die bis heute gültige gesetzliche Regelung, die der Bundestag 1995 beschloss: eine nicht rechtfertigende Fristenregelung mit Beratungspflicht.
Demnach ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland prinzipiell rechtswidrig, sofern nicht eine medizinische oder eine kriminologische Indikation (nach sexueller Gewalt) gestellt wird, bleibt aber straffrei, wenn die Bescheinigung einer anerkannten Konfliktberatung vorgelegt wird, eine Bedenkfrist eingehalten und der Abbruch innerhalb von zwölf Wochen nach der Befruchtung (bzw. 14 Wochen gerechnet ab dem ersten Tag der letzten Regelblutung) vorgenommen wird.
Beratung ohne Druck
Das Beratungsgespräch ist wesentlich dafür, dass die staatliche Ordnung von einer strafrechtlichen Verfolgung des rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs absehen kann. Denn es ist der Ort, an dem das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und die Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zur Sprache gebracht werden können, ohne dass daraus eine zusätzliche Drucksituation für die schwangere Frau entsteht. Sie ist der Schwangerschaftsberaterin außer dem „Absolvieren“ des Gesprächs zu nichts verpflichtet; die Entscheidung über die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs oder die Fortsetzung der Schwangerschaft liegt allein bei ihr. Doch das (laut gesetzlicher Anweisung) ergebnisoffene Beratungsgespräch gibt ihr die Gelegenheit, sich gegenüber einer geschulten und empathisch auf sie eingehenden Person zu öffnen und ihren Schwangerschaftskonflikt mit ihr zu bearbeiten.
An dem System der gesetzlichen Konfliktberatung beteiligen sich gesellschaftliche Organisationen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen. Neben Organisationen wie Pro Familia und der Arbeiterwohlfahrt gehört für die evangelische Kirche das Diakonische Werk dazu, während die katholischen Träger Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen auf Weisung der Bischöfe seit der Jahrtausendwende nicht mehr in einem System mitwirken dürfen, in dem das Beratungsgespräch als ein prozeduraler Schritt auf dem Weg zu einer straffreien Abtreibung verstanden werden kann. An die Stelle der katholischen Beratungsstellen trat vielerorts der Verein donum vitae, der von engagierten Katholikinnen und Katholiken zusammen mit weiteren Gleichgesinnten gegründet wurde, die Wert darauf legten, dass es in der Landschaft der Beratungsstellen weiterhin ein katholisch geprägtes Angebot gab.
Weniger, und doch zu viel
Die Zahl der statistisch registrierten Schwangerschaftsabbrüche hat sich seit Jahren bei etwa 100.000 pro Jahr eingependelt, zuletzt wieder mit leicht steigender Tendenz. Circa 96 Prozent der erfassten Schwangerschaftsabbrüche werden nach der Beratungsregelung vorgenommen, also ohne eine gesonderte ärztlich festgestellte Indikation. Die Zahl von 100.000 Schwangerschaftsabbrüchen ist eine bleibende Herausforderung für einen Staat, der dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes in seinem Grundgesetz große Bedeutung beimisst. Viele Menschen halten es für untragbar, dass in dieser Gesellschaft so viele Kinder nicht geboren werden, weil ihre Eltern aus vielfältigen Gründen, nicht zuletzt aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheiten, keine Perspektive für ein Leben mit dem Kind sehen. Zugleich ist anzuerkennen, dass die Beratungsregelung für die Schwangere in einer schwierigen Lebenssituation eine Unterstützung bietet und durchaus eine Wirkung für den Schutz des ungeborenen Lebens hat. So ist Deutschland mit dieser Regelung im europäischen Vergleich bei den Schwangerschaftsabbrüchen gemessen an der Bevölkerungszahl auf einem der hinteren Plätze. In Frankreich werden beispielsweise trotz niedrigerer Bevölkerungszahl jährlich mehr als doppelt so viele Schwangerschaftsabbrüche registriert.
Abbruch bald rechtskonform?
Nach fast 30 Jahren steht der mühsam errungene und in der Praxis bewährte Kompromiss erneut auf dem Prüfstand: Für die Verfechterinnen und Verfechter eines reinen Lebensschutzes erscheint die Regelung ebenso unzumutbar wie für alle diejenigen, die ungeachtet der Lebensschutzorientierung des Grundgesetzes die weibliche Selbstbestimmung an der ersten Stelle sehen – nichts Ungewöhnliches bei einem Kompromiss. Dennoch sind in den letzten Jahren die Stimmen derjenigen immer lauter geworden, die die Regelung ablösen möchten und in letzter Konsequenz den Schwangerschaftsabbruch nicht nur wie bisher zulassen, sondern auch ethisch und politisch als rechtskonform aufwerten wollen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat an verschiedenen Stellen deutlich erkennen lassen, dass sie den Kompromiss „rechtswidrig, aber straffrei“ ablehnt und das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau nicht wie bisher vom Lebensrecht des ungeborenen Kindes einschränken lassen will.
Katholisch-protestantische Differenz
Die Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin hat zu ihrer Meinungsbildung auch Stellungnahmen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen eingeholt. Hierbei ist besonders interessant, wie sich die christlichen Konfessionen in der ethischen Bewertung des Lebensrechts des Fötus auseinanderentwickeln. Während sich alle katholischen Stimmen, die im Herbst 2023 eine Stellungnahme eingereicht haben – neben dem Kommissariat der deutschen Bischöfe auch das ZdK, die Caritas und der Sozialdienst katholischer Frauen, der Katholische Deutsche Frauenbund, die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands und der katholischen Organisationen nahestehende donum vitae Bundesverband – für die Beibehaltung des rechtlichen Status Quo aussprechen, nehmen evangelische Organisationen eine andere Haltung ein: Die Evangelischen Frauen in Deutschland (efid) sprechen sich für die komplette Streichung von § 218 StGB aus, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie Deutschland für einen im Verlauf der Schwangerschaft abgestuften Lebensschutz und folglich für eine Herausnahme der meisten Konstellationen des Schwangerschaftsabbruchs aus der Regelung im Strafgesetzbuch. Dabei fällt besonders auf, dass die Diakonie Deutschland, die flächendeckend Konfliktberatungsstellen unterhält, sich auch für eine Abkehr von einer Pflichtberatung vor einem Schwangerschaftsabbruch ausspricht. Die Stellungnahme des Rates der EKD ist innerkirchlich recht umstritten und möglicherweise noch nicht das letzte Wort dieses Gremiums.
Abbruch bis zur 22. Woche?
Auch einige in der Regierungskommission tonangebende Wissenschaftlerinnen haben sich inzwischen erneut zu Wort gemeldet. Drei Juristinnen haben einen Gesetzentwurf erarbeitet, den 26 zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter Pro Familia, der Deutsche Juristinnenbund, der Deutsche Frauenrat, die Arbeiterwohlfahrt, Amnesty International, die Gewerkschaft ver.di und die Evangelischen Frauen in Deutschland unterstützen. Das Verbändebündnis hat die Bundesregierung im Oktober 2024 aufgefordert, sich den sehr weitreichenden Gesetzentwurf für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts zu Eigen zu machen. Würde dieser Gesetzentwurf angenommen, wäre ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 22. Woche der Schwangerschaft rechtskonform. Eine Beratung wäre nur noch auf freiwilliger Basis vorgesehen, sodass auch dieser für die bisher geltende Regelung ganz entscheidende Baustein des Schutzkonzepts für das ungeborene Leben, die Beratungspflicht im Schwangerschaftskonflikt, entfallen würde.
Wenn die Bundesregierung sich wegen ihrer internen Differenzen nicht auf einen Gesetzentwurf verständigt, bliebe noch die Option eines fraktionsübergreifenden Gruppenantrags. Von diesem parlamentarischen Instrument wurde in der Vergangenheit häufig Gebrauch gemacht, wenn es um ethische Grundsatzfragen ging, bei denen die Abgeordneten eine Entscheidung ohne Fraktionsvorgabe nur nach ihrem Gewissen treffen sollen.
Recht des Kindes – Recht der Mutter
Die Grundsatzfrage, an der sich die Geister (offensichtlich auch die konfessionellen Geister) scheiden, ist die Kernfrage, mit der sich im Falle einer neuen gesetzlichen Regelung auch erneut das Bundesverfassungsgericht befassen müsste: Welchen rechtlichen und ethischen Stellenwert hat das ungeborene Kind, welchen Stellenwert hat ihm gegenüber das Recht der schwangeren Frau auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper? Was ist den Parteien in diesem nicht auflösbaren und immer tragischen Konflikt zuzumuten? Zu welchem Schutz ist der Staat gegenüber dem ungeborenen Leben unabdingbar verpflichtet – und wie kann er über ethische Beteuerungen hinaus wirksam gestaltet werden?
Der Autor leitet das Generalsekretariat der Deutschen Ordensobernkonferenz und war zuvor Bundesgeschäftsführer des Verbandes donum vitae. Im Ehrenamt ist er Vizepräsident des Familienbundes der Katholiken. Der Beitrag erschien ursprünglich im Kolpingmagazin 2/2024 und wurde für den Sendboten aktualisiert.